Schauerliteratur von Vernon Lee

Gelesen für die #MagdarineChallenge

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Wer Schauerliteratur lesen möchte, greift oft zu den üblichen Verdächtigen. Aber es gibt noch einen Namen, den man kennen sollte: Vernon Lee. In dem Band Amour dure. Unheimliche Erzählungen finden sich vier Geschichten der kosmopolitischen Schriftstellerin und Denkerin des 19. Jahrhunderts.

In der titelgebenden Erzählung Amour dure. Auszüge aus dem Tagebuch des Spiridion Trepka wird der junge Philosophieprofessor Trepka in ein unheimliches Abenteuer mit fatalem Ausgang verwickelt. Auf der einen Ebene ist es eine wunderbare Schauergeschichte, der es an nichts mangelt. Düstere Szenerien, bleiche Gesichter, Jahrhunderte alte Geschichten und die Biografien längst Verstorbener, die die Lebenden umtreiben. Auf der anderen Ebene haben wir es mit einer Parodie auf den geisteswissenschlaftlichen Betrieb zu tun. Das klingt etwas abwegig? Ja, vielleicht. Aber sehen wir uns doch Spiridion Trepka einmal an: Er ist ein junger Philosophieprofessor, der ein Buch geschrieben hat, das zu viel Gefallen erweckte. Und nun findet er sich mittels eines Reisestipendiums in Italien wieder, das ihm einen Archivaufenthalt ermöglicht und ihn dazu zwingt ein weiteres Buch zu schreiben. Er beschwert sich über diese Form des “wissenschaftlichen Wandalismus”, bei der er gezwungen ist, in einer bestimmten Zeit ein weiteres Werk zu schaffen, das dem ersten ähnelt. Und das erste war bereits “ganz ähnlich anderen abscheulichen Büchern voller Gelehrsamkeit und Kunstkritik”. 1 Zunächst ist er daher auch mit seinem Aufenthalt und dessen Zweck nicht sehr glücklich.

Welches sind die Empfindungen eines ehemaligen Rennpferdes, das vor einen Mietwagen gespannt wird? Wenn man sich sie vorzustellen vermag, so sind es dieselben wie die eines Polen, der in einen preußischen Professor verwandelt wurde. 2

Die unheimliche Atmosphäre zieht sich bereits bei seiner Ankunft im Städtchen Urbania um ihn. Er kommt im Haus eines Antiquitätenhändlers unter. Es wird von dessen drei Schwestern in Stand gehalten – “die drei Parzen in Person, ihre Spinnrocken und schwarzen Katzen mit inbegriffen” 3, wie Trepka feststellt. Und während er sich im Archiv in das Leben der vor 300 Jahren verstorbenen Medea da Carpi vertieft, verfällt er seinem Forschungsgegenstand immer mehr. Die junge Dame soll zu Lebzeiten wunderschön gewesen sein und reihenweise ihre Liebhaber getötet haben. Aus seinem wissenschaftlichen Interesse wird schnell Besessenheit; leidentschaftlich ruft seine Seele nach Medea da Carpi. Erfolgreich, wie es scheint. Das Unheimliche nimmt seinen Lauf, als er mitten in der Nacht einer geheimnisvollen Person in eine verlassene Kirche folgt.

Vernon Lee versteht es in dieser Geschichte eine schauerhafte Atmosphäre zu erzeugen, der es an nichts mangelt. Dabei bringt sie auf seichte und nicht übertriebene Art ihre umfangreiche Bildung als Geisteswissenschaftlerin der viktorianischen Epoche in den Text ein, sowie einen feinsinnigen Humor. So entsteht eine Erzählung, die auf verschiedenen Ebenen gefällt und diese Mischung macht ihre Geschichten besonders lesenswert.

Auch die anderen drei Geschichten dieses Bandes folgen dem Stil der ersten. Jemand geht einer künstlerischen Leidenschaft nach und wird dabei über die Grenzen der Zeit (und des Todes) hinweg gezogen. Diesem unheimlichen Ruf aus der Vergangenheit folgend, werden die Figuren Vernon Lees in Schauer und Fantastik hineingezogen. Was besonders an Vernon Lees Erzählungen auffällt, sind ihre zahlreichen Verweise auf Geistes- und Kulturgeschichtliches, das sowohl frühere Epochen als auch in ihrer Zeit hochaktuelle Diskurse berührt. So lässt sich auch heute einiges in diesen Erzählungen entdecken.

Bibliographische Angaben

Vernon Lee: Amour dure. Unheimliche Erzählungen. 204 Seiten. Aus dem Englischen von M. von Berthof und Susanne Tschirner. Erschienen 1990 bei DuMont in Köln, in der Reihe DuMont’s Bibliothek des Phantastischen, herausgegeben von Frank Rainer Scheck. ISBN: 3770125681.

Kurzbiografie von Vernon Lee

Vernon Lee wurde 1856 geboren. Sie entwickelte sich als Autodidaktin zu einer anerkannten Denkerin, Schriftstellerin und Geisteswissenschaftlerin der viktorianischen Epoche. Geboren wurde sie von britischen Eltern in Frankreich und lebte in zahlreichen europäischen Ländern, sprach vier Sprachen und ließ sich schließlich in Italien in der Nähe von Florenz nieder. Bemerkenswert ist, dass Lee offen ihre Liebe zu Frauen zeigte. Durch ihre Reisen nach London und Paris unterhielt sie ausserdem Freundschaften zu vielen Intellektuellen ihrer Zeit. Darunter zählt vor allem auch Virginia Woolf, in deren Zeitschrift sie publiziert wurde. Im Zentrum ihres Schaffens, sowohl in ihren wissenschaftlichen als auch ihren literarischen Texten, steht der Ästhetizismus. Sie erhielt 1924 für ihre wissenschaftlichen Leistungen die Ehrendoktorwürde der University of Durham. Unter ihren literarischen Texten werden vor allem die Geistergeschichten aus dem Bereich der Fantastik hervorgehoben. 4 5

Quellen


  1. Vernon Lee: Amour dure. Unheimliche Erzählungen. Herausgegeben von Frank Rainer Scheck. Aus dem Englischen von M. von Berthof und Susanne Tschirner. Köln: DuMont 1990, Seite 7. ↩︎

  2. Ebd., Seite 9. ↩︎

  3. Ebd., Seite 11. ↩︎

  4. Caroline Crampton: You have to be kind to be cruel. In: New Statesman, 06.09.2010, zugegriffen am 27.08.2020.](https://www.newstatesman.com/society/2010/09/empathy-lee-moral-study-others) ↩︎

  5. Helga Kaschl: Vernon Lee. In: “Ein Zimmer für sich allein”. Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press 1917-1941, zugegriffen am 27.08.2020.](https://www.schreibfrauen.at/vernon-lee/) ↩︎